DGS Sektion Kultursoziologie: Vergnügen und Melancholie in der Kultur und ihren Künsten Vom Stadttheater zur Bühnenwerkstatt – die Entstaatlichung des Schauspiels

Rüdiger Lautmann, Mitarbeit: Daniela Klimke


Zu den hervorstechenden Merkmalen der institutionellen Kultur gehört in Mitteleuropa das öffentliche Theater. In keinem anderen Kulturkreis der Welt findet sich eine derart dichte Landschaft professioneller Schauspielbühnen, getragen vom Staat und subventioniert in einem Umfang, der woanders nur ungläubiges Staunen erregt. (Dass dieses «alte» Medium, mit seinem großen Publikum und seiner seminalen Bedeutung für die Massenmedien Film und Fernsehen, von der gegenwärtigen Soziologie ignoriert wird, sei nur am Rande vermerkt.)

 

Die Institutionalisierung von Theater erinnert kulturgeschichtlich an Altgriechenland. In den Gemeinden Attikas regelte die freie Bevölkerung ihre Angelegenheiten selbst, der demos versammelte sich in den riesigen Theatern. In den hier eingeübten Formen der Öffentlichkeit entwickelte sich der demokratische Stil politischer Willensbildung. Von daher rührt die Tradition der Verbindung zwischen Theater und Staat. Der Konnex wandelt sich mit der Staatsform. So diente die Institution im 17./18. Jhdt. der höfischen Repräsentation und im 19. Jhdt. der Selbstdarstellung des regierenden Bürgertums (verschiedentlich von R. Sennett beschrieben). Vor etwa drei Jahrzehnten riss an den avantgardistischen Häusern die überkommene Harmonie-Verbindung zwischen Staat und Theaterkultur, und allerorts begann sie sich zu lockern. Heute befindet sich die Entstaatlichung in vollem Gange – schon äußerlich abzulesen an den Inhalten der Stücke oder an den Rechtsformen, nicht aber in der politischen und finanziellen Unterstützung. Das hat eine lebendige und medienwirksame Dauerkrise erzeugt, welche die Institution, ihre Produktionen, das Publikum und die Öffentlichkeit in Atem hält.

 

Die Entstaatlichung des Staatstheaters

 

Auf dem Theater werden heute zahlreiche, tendenziell: sämtliche, Fragen zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft verhandelt. Mehr noch als vom Literaturbetrieb kommen heute vom Schauspiel scharfe Kritiken an sozialen Verhaltensweisen und Verhältnissen. Das Wort führen – gemessen an der öffentlichen Wahrnehmung – nicht die formvollendeten, sondern die rauen und konfliktbereiten Theatermacher. Diejenigen Stückschreiber, Regisseure und Intendanten werden berühmt und umworben, die sich mit den überkommenen Kunststandards anlegen gehört es nicht zum Standard von Kunst, innovativ zu sein? , politisch radikalisieren und die Besucherschaft provozieren. (Man denke an die markigen Aussprüche von C. Peymann, F. Castorf und C. Schlingensief – um nur die gegenwärtigen Berliner Protagonisten zu nennen; in München, Zürich oder Hamburg wirken ihresgleichen.)

 

Die meisten Theatermacher üben sich in Absagen an regierungsfromme Standpunkte. Dass hier «die nährende Hand gebissen wird», scheint die Akteure beider Seiten wenig zu kümmern. Es erhöht sogar den Reiz auf das Publikum, und zwar auf die allgemeine Öffentlichkeit, keineswegs bloß die kleine Schar anwesender Besucher. So sind heute die Theater der Kommunen bzw. Länder ein weithin sichtbarer Ort, an dem staatskonforme und staatskritische Kulturverständnisse aufeinanderstoßen.

 

Die Entstaatlichung der Staatsbühnen hat eine gut hundertjährige Vorgeschichte. Seit Ende des 19. Jhdts. fanden Stücke mit explizit politischem Inhalt ihren Weg auf die Bretter (z.B. H. Ibsen, der frühe G. Hauptmann). Das Theater der Weimarer Zeit kannte seit den Expressionisten ein «politisches» Theater, keineswegs nur durch B. Brecht. Im Dritten Reich wich das Theater einer Konfrontation mit dem Nazi-Regime aus und igelte sich ein, indem es komödiantische und von Spielpersönlichkeiten geprägte Unterhaltung bot. Auch die frühe Bundesrepublik betonte die formale Ästhetik des Schauspielens. Äußerlich anders hingegen die DDR mit ihrer staatlich gelenkten dichten Bühnenlandschaft, aber ähnlich durch die von handwerklicher Qualität und politischer Konformität geprägten Aufführungen. In der Bundesrepublik beginnt mit Ende der 1960er Jahre eine heftige Entstaatlichung: Politisch indifferente Produktionen und Kulturrevolten stehen einander gegenüber, oft an denselben Häusern.

 

Das Wechselverhältnis von Kultur und Politik ist in eine neue Phase getreten (K. v. Beyme 1998). Die sozial-liberale Strömung seit 1969 betonte die ‚gesellschaftliche' Seite von Kultur und schuf Raum für Experimente, Alternativen, Randgruppen – auch und vor allem auf der Bühne. Viele Theaterleute erheben heute den Anspruch auf politische Wirksamkeit (nicht zuletzt in pointierter Absetzung zur politischen Zurückhaltung des Theaters im Dritten Reich). Dass der Staat kulturpolitisch auf dem Posten bleibe, wurde dadurch aber nicht infrage gestellt, schon um der materiellen Ausstattung willen. Jeder Rückzug des Staates wird mit lautem Wehklagen beantwortet («Theatertod», ein aktuelles Thema in Berlin und anderswo). Auch die jüngsten Transformationen des Theaterstils, etwa die Wende zum ‚Postdramatischen', wahren die Nähe zur Tagespolitik (E. Jelinek beispielsweise) und die kritische Haltung zum Staat.

 

Was in vordemokratischen Zeiten die Zensur vermocht hatte, konnte später vermittels der Subventionsbewilligung und Intendantenauswahl bewerkstelligt werden. Theaterschaffende wurden (und werden noch teils) ins Beamtenverhältnis berufen. Nach wie vor geben die großen Kommunen den Löwenanteil ihres Kulturetats in diese Institution. Die von den Bühnen ausgegangene Entstaatlichung hätte vom Staat mit einem Rückzug aus der Kulturpolitik beantwortet werden können. Das mag für andere Länder zutreffen (etwa die Niederlande), ist aber für Deutschland, Österreich und die Schweiz noch nicht zu sehen.

 

Klagen über politische Eingriffe in sich oppositionell gebärdende Häuser bleiben selten. Gegen Theaterrebellen wird nur gezetert, nicht aber eingeschritten. In der Regel stützt die Regierung(spartei) einen attackierten Intendanten und schärft daran ihr eigenes politisches Profil. Das Theater ist so zu einer entstaatlichten Arena geworden, in der politische Konflikte dem Publikum dargeboten, oft auch ausgetragen werden. Anders als die in Kompromissen verflachten und an ihre Klientel gebundenen Parteiprogramme wagen die Theaterprogramme sich mit innovativen und scharf gewürzten Impulsen hervor, abgestimmt auf die politische Situation vor Ort.

 

Neben den Subventionsbühnen existiert eine Reihe weiterer Sparten, die politisch weniger Beachtung finden: das Musiktheater etwa, die kommerziellen Privat- und Musicaltheater, die überaus umfangreiche Szene der Liebhaberbühnen, die so genannte Freie Theater-Szene. Hierunter hervorzuheben sind die «Freien Gruppen» als zunehmend auftretende Produktionsform – außerhalb der staatlich geführten Theaterbetriebe, mit nur okkasionellen Beihilfen der öffentlichen Hand, oft in staatlich eingerichteten Aufführungsstätten (etwa in ehemaligen Fabrikgebäuden). Die freien Gruppen (anders als die kommerziellen Tourneebühnen) zielen mit ihrer Alternativität besonders kühn und hoch.

 

Wenn die Subventionsbühnen aus ihrer konfliktreichen Zwitterstellung (vom Staat bezahlt, den Staat kritisierend) herausfänden, dann erst wäre ihr Weg zur Entstaatlichung zu Ende gegangen. Aber es muss nicht so kommen – denn vielleicht trifft das politisierte Schauspiel auf eine Akzeptanz bei Trägern und Publikum. Darüber entscheidet das urbane Umfeld ebenso wie die tonangebende Generation.

 

Staatlich – entstaatlicht als Typologie

 

Eine vorläufige Typologie konzipiert den Stilwandel des Theaters, und zwar in einem Kontinuum abnehmenden Staatsbezugs. Die reale Entwicklung des deutschsprachigen Theaters hat sich in dieser Richtung vollzogen. Sie ist keineswegs abgeschlossen und verläuft unterschiedlich je nach Haus und Sparte. Am selben Haus kommen Produktionen beider Typen bzw. in Mischformen nebeneinander vor. Die Typologie ist intuitiv gewonnen; sie benutzt eine Art von ‚soziologischer Ästhetik'. Im Fortgang der Untersuchung wird sie an den erhobenen Materialien überprüft werden.

 

Das Paradox, dass Theater staatlich alimentiert und produziert wird, aber mit entstaatlichtem Gehalt seinen Kunstcharakter gewinnt, erinnert an jenes andere Paradox, welches P. Bourdieu für das Verhältnis von Literatur und Politik beschrieben hat.

 

Das «J'accuse» von É. Zola in der Dreyfus-Affäre „ist Abschluss und Vollendung des kollektiven Emanzipationsprozesses, der sich nach und nach im Feld der Kulturproduktion vollzog: Als prophetischer Bruch mit der etablierten Ordnung bekräftigt er erneut wider alle Staatsraison den irreduziblen Charakter der Werte Wahrheit und Gerechtigkeit und im gleichen Zug die Unabhängigkeit der Hüter dieser Werte gegenüber den Normen der Politik" (1999: 210). Aus der Autonomie des literarischen Feldes entsteht für Bourdieu der Intellektuelle. Für die Literatur mochte das bereits zu Ende des 19. Jhdts. erreicht sein. Die Künste entwickeln sich aber nicht synchron.

 

Vielleicht musste sich das Theater erst literarisieren – und zwar nicht nur in den Texten der Stücke -, um von und für Intellektuelle zu sein. Noch um 1900 stand das Theater an der Spitze einer Hierarchie von Rentabilitäten: „Für eine im Verhältnis geringe kulturelle Investition verschafft es einer kleinen Zahl von Autoren beachtliche und sofortige Gewinne. Ganz unten in der Hierarchie die Dichtung" (Bourdieu 1999: 188). Das Theater befand sich damals ganz im Einklang mit den Werten eines bürgerlichen Publikums und warf auch die höchste Prestige-Rendite ab, sowohl für Produzenten wie für Konsumenten. Der Prozess einer Intellektualisierung des Theaters erstreckt sich über das ganze 20. Jhdt.

 

Entstaatlichung von Bildung und Kultur – theoretische Konzepte


Wenn die Staatsbezogenheit weicht – was tritt dann an deren Stelle? Das ist die Frage nach dem sozialstrukturellen Standort und der Sinnorientierung der Kunst (vgl. J. Gerhards 1997:11). Als Bezugspunkte kommen in Betracht: die Öffentlichkeit (also die anderen und v.a. die Massen-Medien), das Publikum (Theaterbesucher und alle sonst Anteilnehmenden), die Wirtschaft (hierzu bislang wenig hervorgetreten) und die anderen Kulturbereiche (wie die Religion). Unsere Untersuchung fokussiert das Publikum als Bezugsgruppe von Theater. Wie Theaterbesucher beispielsweise die Aufforderung zur politisch-ökonomischen Reflexion in einem Stück wie «Ein anarchistischer Bankier» (satirischer Dialog von F. Pessoa) verarbeiten und mit welchem Ausgang, das wäre eine noch zu klärende empirische Frage.

 

In Theateraufführungen ereignet sich regelmäßig die Integration einander Fremder zu einer Gruppe auf Zeit. In der alten Theatersoziologie (um 1930) war das verschiedentlich als Bildung einer «Masse» interpretiert worden. Heute könnte man dafür das Konzept expressive Gemeinschaft (B. Peters 1993: 104) fruchtbar machen. Das Element expressiver Vergesellschaftung wird in modernen Gesellschaften stärker als besondere Form ausdifferenziert. Während es in den Handlungsbereichen der Ökonomie und staatlichen Politik im Hintergrund bleibt, tritt es in kulturellen Zusammenhängen deutlich hervor.

 

Die Schichten und Milieus, von denen früher das öffentliche Theater getragen wurde, wandeln sich (in ihren Abgrenzungen, Lebensstilen, Attitüden u.a.). Während diese Veränderungen einen noch zu ermittelnden Einfluss auf den Prozess des Zuschauens haben werden, wird der Theatergänger nach wie vor belohnt. Der Besuch eines Theaters als etablierte Stätte der Hochkultur wirft sichere Distinktionsgewinne ab, und mindestens diesen Sinn dürfte es für viele behalten.

 

Die Entstaatlichung des Theaters rückt nicht nur das Publikum in ein neues Licht, sondern bringt noch weitere theoretische Implikationen für den Wandel des künstlerischen Feldes hervor:

 

Ein Mehr an Autonomie des künstlerischen Feldes geht für Bourdieu einher mit der Differenzierung des künstlerischen Ausdrucks und mit einer fortschreitenden Aufdeckung der Form, die einer Kunst-Gattung genuin zukommt (1999: 223-226). Die Malerei war hier der Literatur voraus, und diese wiederum dem Theater. – Im Verlauf des 20 Jhdts. tritt eine neue Polarisierung hervor: Auf der einen Seite die «reine Produktion»: die Produzenten haben andere Produzenten als Adressaten (und zugleich als Konkurrenten); es treffen sich Theaterleute mit homologen Positionseigenschaften, obwohl sie auch in antagonistischen Beziehungen stehen. Auf der anderen Seite die «Massenproduktion», die sich den Erwartungen des breiten Publikums unterwirft (1999: 198).

 

Eine systemtheoretische Sicht würde es nahe legen, die Entstaatlichung als «Autonomisierung des Kunstsystems» anzusehen und diese als Differenzierung im Evolutionsprozess zu deuten – bis hin zur Selbstreferentialität. Doch wäre das kaum mehr als eine begriffliche Einordnung. Für das Wirken der Autopoiesis gäbe es Anhaltspunkte (die Orientierung der Produzenten an den Voten der Theaterkritik, die Einladung zum Berliner «Theatertreffen» als Ritterschlag u.ä.). Doch die Anwesenheit eines Publikums in jeder Vorstellung sprengt den Selbstbezug – auch hierfür gibt es Belege.

 

Der Wandel von Staatlichkeit in Richtung Supranationalität betrifft bislang vor allem den Bestand an Vorschriften und die Platzierung von Subventionen. Die demokratische Willensbildung und der kulturelle Betrieb (Bildung, Wissen, Künste) wurden kaum erfasst. Im Theater sind zwar Ansätze zu einem globalisierten Repertoire (Stücke, Darsteller, Spielformen) erkennbar. Doch bleibt bei aller «Postnationalisierung» der Kultur zu fragen, ob die kulturelle Identität «einer» Gesellschaft – sei es in nationalstaatlichen, sei es in regionalen Grenzen – nicht ihren Einfluss bewahrt.

 

Je mehr sich die Bedeutung von Staat nach «unten verschiebt», hin zur regionalen und kommunalen Ebene, desto bedeutsamer werden «staatliche» Veranstaltungen auf dieser Ebene. Das öffentlich unterhaltene Theater repräsentiert – noch auffälliger als die Museen etwa – den «Kulturstaat», eine früher als widersprüchlich angesehene und oft übersehene Erscheinung. Beim grassierenden Funktionsverlust der innerstaatlichen Politik sucht sich die Staatsform neue Bleiben und findet diese u.a. in den kulturellen Einrichtungen, deren politischer Rang früher als marginal galt. Für die Bereiche Bildung und Wissenschaft hat diese Entwicklung sich seit Ende der 1960er viel sichtbarer vollzogen, doch prägt sie auch den Kunstbereich.

 

Alle Kulturbereiche wurden in den Jahrzehnten seit 1949 auch «durchstaatlicht» , aber nicht auf eine vordemokratische, ordnungsorientierte Weise, sondern im Einklang mit den Lehr-, Lern-, Meinungs- und Kunstfreiheiten der Verfassungen. Das Theater gewann dabei (begrenzte) Möglichkeiten für ästhetische Experimente und politische Kritik. Ferner bürokratisierte sich seine Organisation in einem bis dahin nie gekannten Maß (Arbeitsteiligkeit, Professionalisierung, Tarifverträge, Arbeitszeitregelungen, Haushaltscontrolling u.a.) – auch dies analog zu den Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen. Eine Deregulierung fand bislang nur in Randbereichen statt (beispielsweise in der selbständigen Haushaltsführung einiger Häuser).

 

Zur Legitimation des entstaatlichten Theaters: Akzeptanz beim Publikum?


Unter den vielen Fragen, welche die hochambivalente Theatersituation für die Gesamtkultur aufwirft, wird hier eine näher beleuchtet und empirisch behandelt: Wie reagieren Publikum und Öffentlichkeit auf die Lockerung in der Staatsanbindung? Die Legitimation des Theaters als öffentlich gestützte Institution ist problematisch geworden. Vielleicht verhält es sich auch ganz anders: Das Publikum erwartet und genießt es geradezu, wenn soziale Probleme dramatisch thematisiert werden, wenn von der Bühne herab eine Staatsschelte formuliert wird. Noch jede Neuinszenierung des «Ring des Nibelungen» wird heute auf ihr Gesellschaftsmodell abgeklopft, keineswegs nur von der Opernkritik, sondern auch in manchen Publikumssegmenten. Die Grundlagen für die Akzeptanz des gegenwärtigen Theaters – entstaatlicht, aber öffentlich unterhalten – sind ausgetauscht worden. Rätselhafterweise erscheint das Theater als unantastbares Gut, das vergleichsweise geschont wird von den übrigen Privatisierungstendenzen.

 

Wertewandel? Die öffentlichen Theater präsentieren unübersehbar zentrale Wertvorstellungen der Gegenwart: Individualismus, Oberflächenästhetik, Körperkult, taktischer Umgang mit Normen, Profanisierung der Religion – um nur einige zu nennen. Zugleich werden überzeitliche, quasi naturrechtliche Wertbestände präsentiert, vor allem in den älteren bis antiken Stücken. Damit wird weniger die (angeblich postmoderne) Beliebigkeit oder ein Relativismus propagiert als an die individuelle Entscheidungslast appelliert. Wenn der «Große Andere» (S. Žižek) abtritt, verschwinden die symbolische Ordnung und die eine Idee von der fortschreitenden Modernisierung. Vielleicht gewinnt Theater in Zeiten des schnellen Wandels an Bedeutung als eine «alte Institution», die schon immer zum reflektierten Erkennen in unübersichtlichen Zeiten verholfen hat. Und möglicherweise wird Theater als Ort der Stadtidentität geschätzt, als ein Provinzialismus, der sich dem globalisierten Treiben widersetzt.

 

Die Ästhetisierung des eigenen Lebens prägt das Handeln der Zeitgenossen. Die persönliche Erscheinung, die Wände der Wohnung, allerlei Artefakte aus eigener Hand werden gestaltet, und all das wird als künstlerische Produktion begriffen. Das Theater führt eine große Bandbreite von Figuren und Verwandlungen vor. Werden die Zuschauer hiervon beeindruckt und zu eigener Produktivität angeregt? Jedenfalls haben sie längst aufgehört, in feierlicher Einheitskleidung ins Theater zu gehen. Steht dies als Indiz für eine Öffnung der sinnlichen Wahrnehmung und der Eindrucksverarbeitung?

 

Behält das Theater seine politische Ambivalenz (d.i. staatlich unterhalten, künstlerisch-intellektuell autonom), wenn die Entstaatlichung weiter voranschreitet? Wenn das Merkmal der Staatlichkeit aus der Wahrnehmung von Theater verschwindet, dann könnte dessen Kritik an Biss und Triftigkeit verlieren. Auch die Umschichtung der Publikumserwartungen nagt an der kritischen Potenz des Theaters – wenn nämlich statt eines demos nur noch «Erlebnishungrige» auf der Suche nach Stimuli, Verunsicherte auf der Suche nach Antworten die Vorstellungen bevölkern.

 

Alte und Neue Medien. Das Theater erweist sich als erstaunlich resistent gegen Versuche, es aus seinem Ursprungsort herauszulösen – anders als viele andere Einrichtungen im Bereich von Wissen, Bildung und Unterhaltung. Auch bietet die «Theatralisierung» so vieler Szenen in Politik und Alltag kein Surrogat zur Schauspielbühne. Das Theater widerstrebt bislang allen Versuchen, es massenmedial zu verbreiten. Es grenzt sich als Ort der Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit vom übrigen medialen Feld ab, welches durch höchstes technisches Raffinement bestimmt wird. Noch immer muss man ins Theater gehen, um Theater zu erfahren.

 

Theater im Markt der Unterhaltungsmedien. Obwohl vom Stigma einer «Kulturindustrie» nach wie vor weit entfernt, werden die öffentlichen Theater heute zunehmend unter kulturökonomischen Gesichtspunkten betrachtet. Sie müssen Effektivität und Effizienz ausweisen, gemessen an Besucherfrequenzen, Zuschuss-pro-Platz-Zahlen, Anerkennung im Feuilleton u.a. Seit den 1980ern gibt es eine ausgedehnte Marketingforschung und -beratung für die öffentlichen Theater. Interessanterweise werden die Resultate und Empfehlungen so gut wie nie befolgt. Offenbar lässt sich das Theater nicht mit den Maßstäben der Wirtschaftlichkeit messen und behauptet sich dennoch.

 

Spaß oder Arbeit? Eine Aufführung zu verfolgen bereitet heute oft Mühe – Zuschauen ist Arbeit. Zwar dauern manche Vorstellungen noch keine Stunde, andere hingegen deren fünf. Der inzwischen häufige Verzicht auf eine Pause verkürzt die Dauer, erhöht aber den Konzentrationsaufwand. Das undeutliche Sprechen («Natürlichkeit» als das Prinzip «Dogma») fordert gespanntes Hinhören. Um was auf der Bühne geht – Personen, Ort, Zeit, Handlung – bleibt oft vage und muss aufmerksam erschlossen werden. In prononcierter Abkehr von der leichten Unterhaltung etabliert sich Theater als Ort, in dem sich Spaß am Erleben nicht aufdrängt, sondern einen anstrengenden Prozess der Deutung voraussetzt. Die trotzige Nischenexistenz inmitten all der anderen, leicht zugänglichen Erlebnisangebote bekommt dem Theater entgegen aller Unkenrufe gut. Und trotz alledem bleiben die Besucher nicht weg. Die Menschen machen sich die Mühe – bei ungewisser Gratifikation. Charakteristisch mag diese Beobachtung sein.

 

Nach einer Vorstellung von «Frühlings Erwachen» (Kindertragödie von Frank Wedekind, 1891) erlausche ich ein Gespräch. Der Aufführung war herausragende Qualität bescheinigt worden; sie war textgetreu und nur so gespickt mit anregenden Zutaten: Musik, Gesang, Tanz, Nacktheit etc. Zwei etwa 19jährige Frauen unterhalten sich beim Verlassen des Hauses. Die eine sagt: „Gar nicht so schlecht!" Die andere, etwas gedehnt: „Ja – für Theater!"


Zitierte Literatur:


Klaus v. Beyme, Die Kunst der Macht und die Gegenmacht der Kunst, Frankfurt/M. 1998.

 

Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, frz. 1992, Frankfurt/M. 1999.

 

Jürgen Gerhards (Hgb.), Soziologie der Kunst, Opladen 1997.

 

Bernhard Peters, Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993.

 

Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, engl. 1977, Frankfurt/M. 1983.

 

Slavoj ¥i¥ek, Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999.

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