von Rüdiger Lautmann
Erschienen in: Stefan Machura/Stefan Ulbrich, Hgb.,
Recht – Gesellschaft – Kommunikation. Festschrift für Klaus F. Röhl, Baden-Baden (Nomos), S. 51-63, 2003.
Der Terroranschlag, der als Elfter September oder mit dem Kürzel 11/9 gehandelt wird, hat sich nicht als kurzlebiges Medienevent erwiesen, wie gelegentlich vermutet worden war. Vielmehr zeitigen die Attentate strukturelle Effekte, die weltweit eintreten und uns mindestens mittelfristig begleiten werden. Was hatte die Kriminologie dazu bislang zu sagen?
I. Zum Verhältnis der Rechtssoziologie zu Kriminalität, Kriminologie und Kriminalsoziologie
Zu Ehren eines Rechtssoziologen über Kriminalität zu sprechen, bedeutet keinen Missgriff, bedarf aber der Be- gründung. In welchem Verhältnis stehen Rechts- und Krimi- nalsoziologie zueinander? Im Lehrbuch von Klaus Röhl handeln zwei kurze Kapitel vom kriminologischen Lehr- bestand: In § 3 wird die Kriminalsoziologie des 19. Jahr- hunderts als einer von fünf Entwicklungssträngen behandelt, aus denen nach dem Zweiten Weltkrieg die moderne Rechts- soziologie hervorging. Und in § 34 wird die Definitionstheorie des abweichenden Verhaltens als einer unter vielen norm- theoretischen Erklärungsansätzen dargestellt, wobei der Verfasser an die Vertragsverletzungen, unerlaubten Hand- lungen und Kondiktionen denken mag. Ansonsten scheinen die beiden Soziologien sich kaum zu berühren.
Nun kommt es ja unter Juristen sehr auf Kompetenzen an: Wer ist für was zuständig und vor allem: wer nicht? Wenn sich die Rechtssoziologie herkömmlich kaum um das Kriminelle kümmerte und dieses einer benachbarten Spezialdisziplin überließ, wird darin eine Logik gewaltet haben. Welche? Die Abgrenzung mag mehreren Quellen entspringen.
Zum einen gilt der Strafrechtssektor gemeinhin als juristisch uninteressant. Was am ‚Verbotsirrtum' logisch einigermaßen anstrengt, kann sich im Gedankenaufwand nicht mit den dogmatischen Verwicklungen etwa des Hypothekenrechts vergleichen. Der Strafsektor erlaubt keine intellektuellen Höhenflüge, und das verweist ihn im Prestigewettbewerb unter den juristischen Disziplinen auf einen der ganz hinteren Plätze. Man könnte auch mutmaßen: Hier geht es einfach zu körperlich und gefühlvoll zu, als dass Abstraktionen den Glanz juristischer Expertise verleihen könnten.
Zum anderen wies die Strafrechtsanwendung immer schon offene Flanken zu Nachbarwissenschaften auf; für Tat- bestandsfeststellung und Schuldbestimmung bedurfte man allerlei Sachverständiger. Die Stilisierung zum autonomen und geschlossenen Fach gelang dem Meinungsführer Zivil- recht viel überzeugender als (aus unterschiedlichen Gründen) den anderen Unterfächern wie Verfassung, Verwaltung und Strafe.
Die Ausdifferenzierung von Rechts- und Kriminalsoziologie hat sich auf den Ebenen der Fachmedien, der universitären Institute und Lehrgebiete so einprägsam vollzogen, dass man regelmäßig keine Notiz voneinander nimmt. Die wenigen Personalunionen stören das Bild nicht (das „Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie" in Wien stellt geradezu einen Ausreißer dar). Die angloamerikanischen Verhältnisse ent- sprechen der Differenzierung des deutschsprachigen Raums: Zeitschriften, Lehrstühle und Diskurse haben sich in getrennten Welten etabliert.
Die ‚Unterdogmatisierung' des Strafrechts hatte einen merkwürdigen Effekt: Bereits früh entstand mit der Krimi- nologie eine Hilfswissenschaft, die es an den meisten Fakultäten – in Verbindung mit dem materiellen Strafrecht oder mit dem Strafprozessrecht – bis hinauf auf die Lehr- stühle geschafft hat. Diese Kriminologie ist indessen – ungeachtet ihrer Ideengeschichte – ein Kind der Straf- jurisprudenz, kein Bankert wie die Rechtssoziologie. Nie fiel auf die Kriminologie der Verdacht, das geltende Recht und seine Verfahrensweisen zu kritisieren. Erst als Kriminal- soziologie traten die von der Rechtssoziologie her bekannten Abstoßungsreaktionen auf, die heute notdürftig mit dem Etikett ‚Kriminalwissenschaften' (Plural) überdeckt werden.
Nur in der Kritischen Kriminalwissenschaft wird zuweilen bedauert, dass die etablierte Kriminologie kaum rechts- soziologisch denkt, sondern hyperpositivistisch ihren Gegen- stand nach dem jeweils geltenden Strafkodex bestimmt. Aber diese Strömung wird selbst von ‚aufgeschlossenen' Juristen nicht allzu ernst genommen. Das zeigte sich im Ersten Periodischen Sicherheitsbericht der Bundesregierung (2001, gedruckt 2002), der die Vertreter der Kritischen Kriminologie (eine Selbstbezeichnung) beinahe komplett überging. <1>
Wenn in diesem Beitrag das Terror-Phänomen kriminolo- gisch betrachtet wird, dann sieht vielleicht auch der rechts- soziologische Blick, dass die beiden Fächer mehr mit- einander haben (könnten), als heute geläufig ist. Ja, vielleicht lässt sich gerade erst im Zusammenwirken die schwere Aufgabe schultern, die Reaktionen auf den Terrorismus in rechtlich geordnete Bahnen zu lenken, statt sie einer un- berechenbaren und gewaltorientierten Politik zu überlassen.
II. Wortkarge Kriminologie
Die Kriminologie ist in Deutschland eine fest etablierte und reich ausgestattete Wissenschaft. Obgleich kein Pflichtfach im Kanon juristischer Ausbildungen – hierin der Rechts- soziologie vergleichbar –, ist sie an den Jura-Fakultäten vertreten, wobei die Strafrechtsdogmatik oft nur als Additivum fungiert. Neben den Universitätsinstituten gibt es eine vielfältige Landschaft kriminologischer Forschungsinstitute, seit Jahrzehnten auch eines der Max-Planck-Gesellschaft. (Der notwendige Vergleich zur armen Rechtssoziologie, obwohl diese doch in der Rechtsflur ein viel weiteres Feld beackert, wird selten gezogen.) Reich ist die Kriminologie auch an Fachzeitschriften und Buchpublikationen. Ein- schlägig Interessierte haben hier viel mehr zu lesen als in einem der übrigen Rechtsfächer.
Der Elfte September hat in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, dem wohl meistgelesenen Periodikum, keinen nachweisbaren Niederschlag gefunden. Ebenso schwieg die Neue Kriminalpolitik. Das Kriminologische Journal, Sprachrohr einer begrenzten Gruppe sich als kritischinterdisziplinär verstehender Kriminalwissen- schaftlerInnen, war bereits im Winter 2002 mit einem programmatischen Aufsatz zur Stelle (Sebastian Scheerer über „Nachteil und Nutzen kritischer Kriminologie in Zeiten des Terrorismus") und kam im Frühjahr mit einem Themenheft „Septemberterror – Krieg oder Verbrechen?" heraus. Bedenkt man den mehrmonatigen Produktionsvorlauf einer solchen Zeitschrift, waren das geradezu Schnell- schüsse. Und die neu begründete Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie widmete im September 2002 ihr erstes Heft dem Thema „Terrorismus und Kriminologie". Vielleicht ist diese Bilanz gar nicht so schlecht. Doch bleibt das Echo der Kriminologie als Fachdisziplin schwach, gemessen am Rauschen im Blätterwald.
Noch nie hat sich die Kriminologie konzentriert auf die Erforschung des Terrorismus eingelassen, wie Hans-Jörg Albrecht in einem Überblick feststellt.<2> Zwar entstehe nach terroristischen Ereignissen stets eine kriminologische Aufmerksamkeit, doch diese flache regelmäßig ab. Albrecht meint zur Erläuterung, der kriminalätiologische Zweig könne mit seiner individualisierenden und entpolitisierten Sicht- weise den Gegenstand nicht erfassen.
Aus „Schwierigkeiten mit der Begrifflichkeit" erklärt Marcel Niggli das Schweigen der Kriminologie zum Terrorismus. <3> Denn dieser Terminus erfasse nicht nur den Terror gegen den Staat sondern auch denjenigen von Staats wegen, also nicht nur unterschiedliche Phänomene sondern auch verschiedene eingesetzte Machtmittel. Zudem müsse die Kriminologie – das ist ehrenwert – auf kritische Distanz zum staatlichen Strafrecht bleiben, sodass eine ‚staatstreue' Position zum Terrorismus ausscheide. Niggli folgert rechtslogisch, „dass Terrorismus als Phänomen für den klassischen Bereich der Kriminologie kein ‚eigentliches' Thema darstellt bzw. darstellen kann [...], sondern eher in den Bereich der politischen Philosophie, der Staats- und Gesellschaftstheorie gehört"<4>. Zwei Gegenfragen sind anzumelden. Erstens: Hat denn Kriminologie mit Staats- und Gesellschaftstheorie nichts zu schaffen?! Zweitens: Mit Nigglis Logik wären auch Hoch- und Landesverrat wie sämtliche Staatsschutzdelikte kein Gegenstand für die Kriminologie. Hier verfangen sich anscheinend juristischer Positivis- mus und politischer Kritizismus in einer Logikfalle, aus der herauszufinden sein sollte – beispielsweise mit der Unterscheidung zwischen Legalität und Legitimität. Eine schöne Denksportaufgabe für die Metakriminologie – und keine Entlastung für die Untätigkeit einer Kriminologie der Terrorismen.
III. Anfangs bedeuteten die Anschläge noch ein Verbrechen
Der Politikwissenschaftler Dieter S. Lutz (vom Institut für Friedenforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg) begann ein Interview so: „Aus meiner Sicht handelt es sich um ein schweres Verbrechen, nicht aber um einen Krieg."<5> Der Interviewer widersprach dem aber bereits in seiner folgenden Frage. Vermutlich haben die Massenmedien mit an der Schraube gedreht, womit die Attentate auf das dramatischere Niveau gehoben wurden. Allenthalben wurde die Erfahrung von Pearl Harbor beschworen.
Alsbald war keine Metapher dramatisch genug, keine Deutungsfigur zu hoch gegriffen, keine Theorie zu systemisch und makrosoziologisch, um eine Reverenz vor der schieren Größe der Taten zu bezeugen. Nicht einzelne politische Institutionen der USA waren die Adressaten, sondern America als Ganzes. Wenn nicht gar der Westen. Nicht Tatschuld war zu ahnden, sondern das Böse schlechthin. Nicht ein tatbestandsbezogener Vorsatz trieb die Täter an, sondern der Wahnsinn. Nicht einer Wiederholung war vorzubeugen, sondern die Freiheit zu verteidigen. Da alle bisherigen Strategien versagt hätten, müsse das Undenkbare gedacht werden.<6>
In der Stunde Null des elften September war das Denken freigegeben. Wie profitierte die Kriminologie davon? Als Beispiel diene das erste Aufgebot des Faches, nachzulesen in Heft 2/2002 des Kriminologischen Journals (dessen Beiträge zur Jahreswende 2001/2002 geschrieben worden sind). Für Kriminologen bedeutete es einen ungewöhnlichen Ausflug. Sonst in das Themenghetto von Drogenbeschaffung, Hooligans usw. eingemauert – schon Mafia und Korruption bilden hier selten behandelte Großthemen –, ging es nun in die weite Welt hinaus: Naher Osten, USA. Dabei entglitten der Kriminologie die vertrauten Instrumente. Anstelle von Taten und Tätern fiel der Blick eher auf den weltpolitischen Konflikt, auf den Zusammenstoß der Kulturen (als abzu- lehnende Interpretation), auf die Neuen Kriege etwa. Im Einzelnen wurden dabei durchaus originäre Leistungen erbracht, und man spürte die Lust, von der kriminologischen Fron einmal befreit zu sein und politikwissenschaftlich- makrosoziologisch nachdenken zu dürfen. Dies erlaubt der kriminologische Themenrahmen meist nicht, und wenn, dann prasseln die Vorwürfe wie ‚Praxisferne', ‚Globalkritik', ‚Kriminologie ohne Recht' und wie die Verdikte weiter lauten.
Die einstürzenden Turmbauten mögen einfach zu groß, die in Endloswiederholungen verbreiteten Bilder zu gewaltig gewesen sein, um das Ereignis in gewöhnliche Akte einer Strafverfolgung zu zwängen. Die Banalität des Kriminellen verfügte nicht über die Fassungskraft, um eine Art Mammuttat als Thema zu ergreifen und festzuhalten, statt sie in die Hände der National- und Weltpolitik abgleiten zu lassen.
IV. Sozialwissenschaftlich, aber nicht kriminologisch
Vom ersten Tag machten sich die globalen Deutungen breit: Die Akte galten als „Angriff auf die USA" oder auch gleich „auf die freie Welt". Viel diskutiert wurde der „Zusammenprall der Zivilisationen". Endlich hatte der abgetretene Kalte Krieg seinen Nachfolger gefunden. Man sah „die Weltreligionen" im Konflikt miteinander. In deutschsprachigen Tages- und Wochenblättern diskutierten Islam- und andere Religions- wissenschaftler über muslimische Rechtschaffenheiten. Die verheerenden Folgen ökonomischer Globalisierung in der Dritten Welt wurden erneut vorgerechnet. Diesem Zug ins Globale setzte die Kriminalwissenschaft kaum etwas entgegen, sie blieb stumm.
Der Kriminologe Hubert Beste hat eine beachtliche Analyse vorgelegt, worin die sozialwissenschaftliche Aufarbeitung des 11/9 resümiert wird.<7> Daran stechen viele Bemerkungen ins Auge. Der Autor sieht eine „überaus starke kultur- industrielle Filterung der Ereignisse" am Werk. Die massen- mediale Berichterstattung bringe „eine neue postmoderne Kriegsästhetik" zum Durchbruch. Eine „transnationale Elite innerhalb der neuen Weltordnung" sei im Entstehen. Die Sammlung sozialwissenschaftlicher Veröffentlichungen demonstriert die „überragende Bedeutung von weltpolitischen und militärisch-strategischen Dimensionen".
Beste nimmt eine Inhaltsanalyse vorliegender Publikationen vor, was ihn dazu verleitet, diskursimmanent zu bleiben. Dass die Rechtswissenschaft im Publikationsfeld eine unter- geordnete Rolle spielt, führt er auf die Schwierigkeit theoretischer Einordnung und Bewertung der Ereignisse zurück. Hier fragt es sich indessen, wieso es gerade ihr schwer fallen sollte, die doch – pardon! – alles aus dem Stand unter ihrem Gesichtspunkt zu kommentieren vermag. (Wer kennt nicht von fachlich gemischten Tagungen den Satz ‚Als Jurist muss ich sagen ....'?!) Rechtswissenschaftliche Publikationen haben denn auch von Anfang an den Ver- brechenscharakter der Attentate betont und das Völkerstraf- recht in Anschlag gebracht.<8>
Vielleicht erschien den übrigen Autoren das Strafrecht, insbesondere auf transnationaler Ebene, von vornherein als zu sanktionsschwach, um mit seiner Hilfe eine Perspektive auf die wissenschaftliche Herausforderung (zu schweigen von der politischen) zu erarbeiten. Eine merkwürdige Kapitulation, und ein Verzicht auf eine zivilisatorische Errungenschaft – das Recht und seine gewaltzähmenden Verfahrensweisen – sondergleichen. Hubert Beste versucht gar nicht erst, die 11/9-Ereignisse, ihre mediale Verbreitung sowie ihre wissenschaftliche Verarbeitung auf die Ver- brechens-bedeutung hin zu analysieren. Vielmehr steht der Terror sogleich als weltpolitisches Großereignis da, und die Kriminologie ist bloß eine Subdisziplin der Soziologie.<9> Das heißt, selbst die kritische Kriminologie hat sich ein Jahr danach mit der Entkriminologisierung abgefunden und spielt im Konzert der Anderen mit.
Die vier theoretischen Zugänge, welche Beste unterscheidet, lassen einen spezifisch kriminologischen Ansatz durchaus zu. Zwar nicht die „Globalisierungs- und Kultur- konflikt-Ansätze" und die „Systemtheorie/Zeichentheorie" (die zusammen etwa zwei Drittel der theoriehaltigen Texte in der Stichprobe ausmachen). Wohl aber die „Mikro-Makro- Modelle" sowie die „Interaktions-, Kommunikations- und Netzwerkansätze". Die Politologie dominiert, denn (Beste:) „diese Zugangsweisen benötigen kein (empirisches) Spezial- wissen in Sachen ‚Septemberterror', sondern lassen sich aus allgemeinen Wissensbeständen erschließen". Sic! Doch ebenso wie die Politik- konnte die Rechtswissenschaft gleich loslegen bzw. hätte sie gekonnt, und mit ihr die Kriminalwissenschaft.
V. Makrosoziologische versus pragmatische Kriminalitätstheorien
Eine Fraktion in der Soziologie neigt zu ‚großformatigen' Erklärungsansätzen; ihre Lieblingswörter lauten ‚Gesellschaft', ‚Sozialstruktur' und ‚gesamtgesellschaftliche Verhältnisse'. Mit der Analyse konkreter Ereignisse tut man sich hier schwer – das Soziale wird eher mit breitem Pinselstrich gemalt. Doch das Mammutereignis 11/9 brachte die Tinte dieser Federn zum Fließen. So synonym ‚gesamtgesellschaftlich' und ‚global' eben sind, so leicht fiel es ihnen, die ‚Globalisierung' als Ursache zu entdecken. Bekam jetzt nicht der ‚Turbokapitalismus' seine Quittung? Rief nicht die „metropolenkapitalistische Lebensweise" erst den Angriff auf die WTC-Türme hervor? Musste nicht der Westen sich „die gewaltförmigen Folgen der Kapitalisierung auf neuer Stufen- leiter eines ex- und intensiver konkurrierenden Kapitalismus" zurechnen lassen? Ist es nicht so, „dass sich der terror- istische ‚islamische' und der bis an die Zähne be- waffnete ‚westliche' Fundamentalismus [...] gegenseitig bestätigen und verstärken"?<10>
Wird der Elfte September erst einmal derart weltpolitisch gerahmt, ist es nur noch eine Frage des politischen Lagers, welche Art von außen- und sicherheitspolitischer Reaktion – darunter auch ein Krieg – gewählt wird. Ganz anders würde eine pragmatisch orientierte Theorie verfahren. Ohne erst groß nach den Ursachen zu suchen, würde sie die geeignete Antwort entwerfen. Dabei hätte sie eine ganze Palette von Reaktionsfarben zur Hand; angefangen beim Straftribunal reicht diese über die Destruktion der Netzwerke, die Ergreifung/Internierung potenzieller Nachfolgetäter (Modell Guantanamo) bis hin zur Kriegserklärung.
VI. Die handlungstheoretische Option
Aus welcher Sicht lassen sich denn die Geschehnisse am 11. September 2001 in New York City und Washington, D.C., einer kriminalwissenschaftlichen Obhut unterstellen? Wenn es mit weltwirtschaftlichen (‚Globalisierung'), kapitalismus- kritischen (‚Turbo-K.'), religionspolitischen (‚Kampf der Kulturen'), universalhistorischen (‚Modernisierung'), gegen- wartsdiagnostischen (‚Transformationen nach den Zu- sammenbruch des Realkommunismus'), Clausewitzschen (‚Neue Kriege') usw. Ansätzen nicht gelingen kann – womit dann? Ohne die vorgenannten Interpretationen zu berühren, müssten Tat und Täter in klein-klein betrachtet werden. Ähnlich der Analyse von Einbruch und Dieb, von Totschlag und Mörder: eine Situation und ihre präsenten Akteure.
Scheinbar besteht hier gar kein Problem. „Terrorismus ist immer auch Handlung", schreibt Hans-Jörg Albrecht; dass „gewalttätige Auseinandersetzungen um die politische und ökonomische Macht [...] gleichzeitig als Verbrechen ein- gestuft werden können, ist selbstverständlich".<11> Nun gilt aber eine Handlungsperspektive in den Sozialwissenschaften nicht eben viel, wenn ökonomisch-politische Konflikte untersucht werden. Von Marx und Durkheim über Parsons bis hin zu Bourdieu und Giddens beherrschen makrotheoretische Konzepte das Feld. Die Einsicht, dass stets auch ‚gehandelt' wird, muss so ausgearbeitet werden, dass sie in nicht trivialer Weise erklärungshaltig wird.
Die handlungstheoretische Interpretation untersucht die Gegebenheiten vor Ort und in den Personen der Beteiligten, ihre Strategien und Resultate, die unmittelbaren Opfer und mittelbar Leidtragenden. Niemand sage, das sei angesichts des 11/9 banal oder verstehe sich von selbst. Mit besonderen Taten und Tätern haben wir es schon zu tun, beginnend mit dem Suizidalpreis der Entführer und dem merkwürdigen Gelähmtsein der meisten Flugzeuginsassen. Möglicherweise wird sich erst eine Verfilmung an die Rekonstruktion der Abläufe und persönlichen Hintergründe wagen – anstatt dass kriminalistische Findigkeit bereits jetzt einige Bilder lieferte.
Die Herren Atta & Cons. waren nicht nur der ‚Arm' einer Organisationen, eines Kulturkonflikts oder eines sonstigen überindividuellen Gebildes. Schon der Netzwerk-Gedanke verweist darauf, dass hier Abenteurer am Werk waren. Was sie getan haben, ist nicht nur „selbstverständlich" mit dem Strafrecht zu würdigen (H.-J. Albrecht); auch die Kriminologie kann sich – entgegen den logischen Bedenken von M.A. Niggli (oben II.) – damit beschäftigen.
Zu den welthistorisch herausragenden Rationalisierungen im Politikbereich gehört die Staatsform der Demokratie. Die Befristung der Amtszeiten, der Wahlmechanismus usf. stellen die Regierenden unter Begründungszwang, die Opposition unter Argumentationszwang. Rattenfänger verführen die öffentliche Meinung nur vorübergehend, und Abenteurer bleiben beinahe chancenlos. A.H. war das letzte Exemplar, welches aufgrund von Mehrheiten und Ernennung – wie irregulär immer – ins Amt kommen und dort verbrecherisch wirken konnte, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen. Ansonsten suchen wir die Figur des Abenteurers in der Geschichte und vor allem in Geschichten: Robin Hood und Richard der Dritte, Wallenstein, Schinderhannes und Michael Kohlhaas beispielsweise beschäftigen die literarische Phantasie, finden in der unserer Gegenwart aber nicht mehr ihresgleichen.
Terroristische TäterInnen bedienen aufs Vitalste die Vor- stellung des Abenteurertums. Die es selbst gern wären sympathisieren am stärksten mit ihnen – nämlich einige Teile der Eliten, soweit sie sich politisch keine reelle Chance ausrechnen können. Die ‚kleinen Leute' hingegen haben von gewalttätigen Usurpatoren nichts zu erwarten, verharren dem- gemäß in durchaus gesunder Skepsis (auch wenn sie, im Falle großer Unzufriedenheit und wirtschaftlicher Not, der Propaganda einmal auf den Leim gehen mögen). Nur einige Intellektuelle folgen im Spiel ihrer Gedanken und Projektionen jenen Abenteurern, allerdings ohne je in deren Fußstapfen zu treten. Die Aktionen und Pamphlete der RAF fanden vor einem Vierteljahrhundert viel ernsthaft-analytische Aufmerksamkeit; die Tode zu Stammheim rührten viele Bildungsbürger, und „Deutschland im Herbst" war und blieb ein künstlerisch bemerkenswertes Ereignis.
Bürgerliche Revolutionen haben sich am Ursprung neu- zeitlicher Demokratien ereignet; Revolutionen gegen die Demokratie brechen die Regeln vernünftigen Regiert- werdens. Ausbrüche aus der Schwerfälligkeit unserer Staatswesen beflügeln so manche Intellektuelle. Ihre Kreativität reicht nicht zur eignen Tat, wohl aber zur sprach- mächtigen Überhöhung. Sie erliegen, wie von Karl R. Popper 1944 beschrieben, dem „Zauber Platons". Es resultiert der Mythos vom gut gemeinten Terror, der als Widerstand gegen Kapitalismus, Konsumismus etc. ein Verständnis erntet.
In diesem Sektor des gesellschaftlichen Meinens – an Köpfen klein, mit Gedanken stark – wird auch der Elfte September nicht als politischer Wahnsinn abgetan. Vielmehr sucht man nach einem verständlichen Sinn: als Protest gegen us-amerikanische Hegemonie und gegen die Überfremdung indigener Kulturen etwa. Sympathie regt sich für die Schwachen dieser Welt (zu denen man als unterlegene Elite sich selber rechnet). So werden vielleicht die Kamikaze- flieger der vier Jumbos und der saudische Millionärserbe O.b.L. eines Tages auch im Westen als Helden verklärt werden, die ‚sich getraut' haben. Politische Abenteurer haben schon aufgrund ihrer Seltenheit eine bessere Chance, den Olymp kollektiver Erinnerung zu erklimmen.
Die Verklärung beginnt etwa so: Die Attentäter betrieben eine Abrechnung mit den Werten des Westens. Die Attentate seien ein verzweifelter Ausdruck derer, die gegen die The-winner-takes-it-all-Mentalität chancenlos sind. So entsteht ein Mitleid mit den ‚Überflüssigen' und ‚Beleidigten'. Die Täter werden zu Opfern – einer beschleunigten Modernisierung und kapitalistischen Globalisierung nämlich. In dieser Weise rekonstruierte Heinz Bude (auf dem Leipziger Soziologie-Kongress 2002) eine Sichtweise, für die der documenta-Macher Enwezor als prominenter Vertreter benannt wird.
Atta und die Anderen als politische Abenteurer zu sehen, die ihrer Ziele wegen Menschen- und Sachopfer herbeiführten, wäre durchaus nicht die Sicht einer Pathologisierung, der Sebastian Scheerer zu Recht das Erklärungspotential abgesprochen hat.<12> Vielmehr sind Abenteuer Handlungen und Situationen, mit welchen konventionelle und rechtliche Grenzen überschritten werden, die in offenes Gelände führen und deren Akteure dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
In einem ordentlichen Strafprozess wird ein Verbrechen meist banalisiert. In den gegenläufigen Strategien der Verfahrensbeteiligten zerbröselt, was das Publikum an der Tat ursprünglich so erregt hat. Das war im Majdanek-Prozess nicht anders als es derzeit im Milosevic-Prozess in Den Haag oder im Motassadeq-Prozess in Hamburg der Fall ist. „Welch ein groteskes Missverhältnis," stöhnte der Gerichtsbeobachter der Süddeutschen Zeitung, als er den Anblick eines schmächtigen Mannes mit der Erschütterung einer Weltmacht verglich.<13> Die Angeklagten treten als harmlos auf, ihre Ver- teidigung zerpflückt die Beweisstücke, die Anklage tut sich aufgrund des Zeugenschutzes schwer. In vielen Verhandlungstagen über Monate hinweg wird ein großes Ereignis in kleine Handlungssegmente zerlegt. Erst am Ende wird daraus wieder das Gesamt von Tat und Schuld zusammengefügt.
Mag der Rechtsstaat auch nicht immer ein impulsives Verlangen nach Gerechtigkeit erfüllen, so leisten die juristischen Verfahren insgesamt doch das, was sie in einer Demokratie zu leisten haben: Lynchjustiz wird ausgeschlossen, staatliche Willkür wird gezähmt, das Geschehen nach quasihistorischen Methoden aufgerollt, Voraburteile werden geklärt usw. Nicht zuletzt die wegen Menschheitsverbrechen geführten Prozessen haben das bewiesen, angefangen beim Tribunal von Nürnberg.
Für eine kriminologische Interpretation im durchaus klassischen Sinne, nämlich nach Tat/Täter/Opfer/Sanktion, ergeben sich also durchaus Anknüpfungen. Sie muss sich nur von den Dramatisierungsmetaphern der Politiker ver- abschieden. Die Rede vom ‚Reich des Bösen' war schon vor dem 11/9 präsent; die Sowjetunion hatte erst wenige Jahre zuvor bei ihrer Selbstauflösung den luziferischen Charakter verloren, danach befand sich das ‚Reich des Guten' auf der Suche nach einem neuen Counterpart. Auch die Rede von den ‚Schurkenstaaten' war längst geläufig. Von Ländern des Nahen, Mittleren und Fernen Ostens her bedrohten ABC- Waffen die Länder Israel und USA, auch ereigneten sich ungeklärte Flugzeugabstürze sowie Sprengstoffanschläge in jährlicher Folge. Hinsichtlich der ‚Schuldigen' bestanden feste Vermutungen, wenngleich kaum Täter ergriffen oder Hinter- männer benannt waren. Der frühere Hauptschuft Gaddafi hielt sich seit einiger Zeit zurück, ohne dass die Kette der Taten abriss.
Die Nomenklatur dieser Zuschreibungen und Identifikationen war dem Strafrecht entlehnt. Wo Einzelne verhaftet worden waren, wurde ihnen ein ordentlicher Strafprozess gemacht. Die Kriminologie konnte hierüber nachdenken und ihre Interpretationen abliefern. Noch hatte im deutschsprachigem Raum kein solcher Prozess stattgefunden. (Hier stand nur die teilweise, aber nicht völlig anders gelagerte Strafverfolgung von DDR-Größen zur Debatte und warf schwierige Fragen zum Geltungsbereich westdeutschen Rechts auf.) Man kann den Eindruck gewinnen, die Kriminologie ist an die Massen- delikte kleiner Leute gewöhnt; aber an singulären Taten und grenzüberschreitender Kriminalität entzündet sich kaum ihre Phantasie.
Andererseits ist die Kriminologie nicht so naiv, Opfer und Täter in Gute und Böse zu dichotomisieren. Längst weiß sie, dass es keine wirklich weißen Westen gibt, dass die Dunkelziffer viele schwarze Schafe deckt. So moralisch das Strafrecht in seinem Ursprung ist, so realistisch sitzt man heute über Delinquenten zu Gericht: Sie werden längst nicht mehr abqualifiziert; denn bei der Strafzumessung sind die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft ausgehen (§ 46 StGB). Dies verbietet jeden Manichäismus. Doch die wieder aufgelebte alttestamentarische Rede vom Reich des Bösen entwand der Strafjustiz ihre Kompetenz und legte diese in die Hand der Exekutive, Abt. Äußere Sicherheit. Zwar rümpfte man die Nase über die archaischen Deutungs- figuren. Doch hatte sich der Wissensbereich Kriminalität selber nie weit genug vom Denken in Sühne, Vergeltung, Talion usf. entfernt, um jetzt einen intellektuellen und rechts- politischen Widerstand wirksam entgegensetzen zu können.
Nicht einmal die Figur der Hassverbrechen vermochte eine kriminologische Antwort zu inspirieren. Gemeint sind die Gewalttaten, die von selbst ernannten Rächern und Normalitätswächtern gegen Angehörige von Minderheiten und Randgruppen begangen werden – Obdachlose, Aus- länder, Behinderte, Perverse u.a. werden in vielen Ländern geschlagen und getötet, weil sie nicht ‚hierher gehören', sondern ‚fort sollen'. Für die Ermittlungsroutine jedenfalls wurde das Konzept als ungeeignet befunden: Politische Motivationen seien auf polizeilicher Ebene schwerlich seriös zu ermitteln.<14>
Wolfgang Sofsky sieht in den Attentaten Hass und Mordlust am Werk, beide angelegt in der Natur des Menschen: in der Freiheit, die ihn vom Tier unterscheidet. „Die Gewalt ergibt sich aus der spezifischen Menschlichkeit des Menschen." Und an Helmuth Plessners „exzentrische Positionalität des Menschen" erinnernd heißt es: „Weil er immer schon außer sich ist, ist er zu jeder Grausamkeit in der Lage."<15> Die anthropologische Deutung erlaubt allerdings nicht, zwischen dem Töten als Krieg oder als Kriminalität trennscharf zu unterscheiden.
VII. Enttäuschung über die Kriminologie
Das Verstummen der Kriminologie hat eine Tradition, die von der Soziologie geteilt wird. Fritz Sack hat die einschlägigen Ereignisse seit den 1960er Jahren betrachtet und ein be- stürzendes Fazit gezogen. Von den gewalttätigen Demonstrationen bis hin zum Terrorismus – diese Ereignisse erwischen kalt die Wissenschaften. Konzepte fehlen. Sack bescheinigte dem Hamburger Kongress über „Modernität und Barbarei" (1994) nicht weniger als „Sprachversagen, Hilflosigkeit, Erklärungsunvermögen [gegenüber] Krieg, Gewalt, Kriminalität und Zerstörung".<16> Die Soziologie durch- leuchtet soziale Ordnung, nicht das Chaos, nicht ungeordnete Zustände, nicht Zerstörung (die sie als Ausnahme und Unfall betrachtet). Den übrigen Wissenschaften ergeht es hierin nicht anders. Sie versuchen „die Reinigung des individuellen und sozialen Körpers von seinem Unrat aller Art". Die Grund- lagenwissenschaften, angefangen bei der Psychologie, beschmutzen sich nicht; die Umsetzung ihrer Erkenntnisse für Interventionen wird „den ständig wachsenden «klinischen» Töchtereinrichtungen von Beratung, Therapie, Personal- führung und so weiter" überlassen.
Unterstützt die Rechtssoziologie eine Enthaltsamkeit des Rechts gegenüber der terroristischen Herausforderung? Klaus F. Röhl schrieb einmal, „die Grundstruktur des Rechts als eines beharrenden, konservativen Elements" sei weithin unbestritten, und fand das „trivial". Doch hat es in unserem Zusammenhang eine weiterführende Bedeutung. „Definitionsgemäß besteht das Recht aus den Teilen der Sozialstruktur, die zu einer besonderen Verfestigung gefunden haben", folgert Röhl – und spricht ihm damit ein bisschen die Möglich- keit ab, bei einer völlig neuen Herausforderung noch präsent zu bleiben.<17> Prospektiv und responsiv sind juristische Verfahren nicht, das können in dieser Sicht nur politische Verfahren sein.
Die Bescheidenheit der Kriminologie verdankt sich dem Umstand, dass sie sich dem Staat dienend unterordnet: sein Strafrecht als gegeben hinnimmt (‚Gesetzes-Positivismus'), seinen kriminalpolitischen Entscheidungen folgt. In dieser zuarbeitenden Funktion verengt sich der kriminologische Blick und macht all jene Ressort- und Auftragsforschung möglich, mit welcher der überwiegende Teil der professionellen Kriminalwissenschaft sein Brot verdient.
Wie sehr unsere Kriminologie sich von tagespolitischen Vorgaben abhängig gemacht hat, belegt drastisch ein Mammutunternehmen der wissenschaftlichen Auftragskriminologie: der Erste Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung, erarbeitet unter Beteiligung aller großen Forschungsinstitute, veröffentlicht am 11.7.2001 – ohne auch nur im geringsten etwas vom 11.9. zu ahnen. Unter der „Politisch motivierten Kriminalität" (S. 263-306) werden die inländischen Taten aus rechtsextremer Ecke abgehandelt, unter „Zuwanderung und Kriminalität" (S. 306-337) werden nützlicherweise einige Primitivmeinungen zurechtgerückt. Terrorismus spielt auch für „Kriminal- und rechtspolitische Schlussfolgerungen der Bundesregierung" (S. 599-622) keine Rolle. Gewiss, nachher weiß man's immer besser; doch bei einer so präventionsorientierten Disziplin stößt prognostische Ignoranz schon sauer auf.
Theoretisch wohlbegründet wird darüber hinaus der Stand- punkt vertreten, wonach die Durchsetzung einer krimino- logischen Definition „eine entscheidende Ressource in der Auseinandersetzung um Herrschaft und Macht" sei.<18> Die Alternative, den Terror entweder als Straftat oder als Politikum zu werten, schreibt Hans-Jörg Albrecht, „stellt sich deshalb gar nicht, denn terroristische Gewalt erhebt den Anspruch auf Geltung, ist die Herausforderung der Zentral- gewalt und ist insoweit in den (kleinen) Krieg einzuordnen". Eine recht elegante Lösung unseres Problems! Der politische Impuls einer Terrorhandlung wird hier ernst genommen – so ernst, dass Zentralgewalt und Terrorismus auf dieselbe normative Ebene gehoben werden. Einerseits zeugt das von großer Souveränität der Kriminologie (die gewissermaßen über einem Staat steht, dessen Strafbetrieb sie beobachtet), andererseits verzichtet es auf den Hoheits- anspruch des Strafrechts gegenüber dem Terrorismus.
VIII. Aussichten
Rechts- und Kriminalsoziologie stehen nicht allein mit leeren Händen da; in ihrer Hilflosigkeit befinden sie sich in der Gesellschaft der meisten Wissenschaften. Auch konkurriert die Politikwissenschaft nicht als einzige mit der Kriminologie – in der Interpretation wie im Blick auf die Praxis. Aber wie es scheint, gelingt es doch in einigen anderen Wissenschaften.
Neuerdings haben es auch die Kommunikations- und Kulturwissenschaften geschafft, ihre Perspektive auf den Septemberterror zu entwickeln und vorzubringen. Der 11/9 wird zum ‚Medienereignis'. Zwar scheut man (noch?) davor zurück, ihn ausschließlich dazu zu erklären. Doch immerhin will die Forschungsstelle Politische Ikonographie des Hamburger Aby-Warburg-Hauses ein digitales Bildarchiv zum ‚Schwarzen Dienstag' einrichten und veranstaltete zum ersten Jahrestag eine (natürlich auch medienwirksame) Tagung über „Bilder des Terrors – Terror der Bilder". (Auf- gepasst, Jubilar! Auch dies betrifft die Bilder und die Kommunikation von Recht.)
Bereits anderwärts war bemerkt worden, dass der 11/9 so etwas wie praktizierte Medientheorie sei: Denn die Attentate hätten ihre Effekte doch dadurch erzielt, dass sie durch die in Endlosschleifen wiederholten Fernsehbilder eine weltweite und massenmediale Kenntnisnahme nach sich zogen. Wurde der Journalismus damit zum Instrument des Terrorismus? Wir kennen diese Frage aus jener Entführung, die unter dem Stichwort ‚Gladbeck' bekannt geworden ist. Die Kommunikationswissenschaft hat damit ein Thema – und eine Perspektive auf den Septemberterror.
Anstatt sich mit der Immunisierung in Gut-versus-Böse – beide Qualitäten schwerlich weiter diskutierbar – das Denken abzuschneiden, bedarf es der Zeit und des Raums für eine diskursive Auseinandersetzung mit dem Geschehenen.<19> Als ich, ein gutes Jahr nach dem Anschlag, in NYC an Ground Zero stand, zusammen mit Hunderten amerikanischer BürgerInnen – die meisten mit Begräbnismienen –, schlug die Stunde für eine innere Stimme. Ich spürte wohl eine Erschütterung, litt für die Toten und die Zerstörung der archi- tektonischen Wahrzeichen, aber ich erlebte keine Konversion der interpretatorischen Perspektive. Die Dreitausend der Toten, das Verschwinden eines Symbols ökonomischer Weltmacht, der Aberwitz von Flugzeugen als Geschossen – all das brachte nicht den Gedanken zum Schweigen, die Ereignisse den individuellen Akteuren zuzurechnen anstatt irgendwelchen Staaten oder Netzwerken oder Globalitäten.
Worin bestehen die Voraussetzungen, dass Rechts- u Kriminalsoziologie gegenüber dem Terrorismus-Phänomen kompetent werden? Hier beginnt ein neuer Artikel, nur einige Einfälle seien genannt. Das Konzept der Makrokriminalität (Herbert Jäger, 1989) wäre erneut auf seine Leistungs- fähigkeit zu prüfen und sowohl in der empirischen Forschung als auch in der Rechtsdogmatik einzusetzen. Hingegen mag das Konzept der Menschheitsverbrechen in erster Linie aufrüttelnden Charakter haben und eine moralische Dimension signalisieren. Für die Kriminologie, welchen Lagers immer, gälte es, aus der ‚Dienerperspektive' herauskommen, oder auch auf ihre ‚Staatsprüfungstauglichkeit' zu verzichten.
Anmerkungen
Literatur
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